„Wir möchten, dass die Leute zu ihrem Recht kommen“

Oktober 7, 2020

Autor*in:

Clara Engelien

Worum geht es?

Weil es bei Polizei und Justiz an Kenntnis mangelt, kommen Angriffe im Netz oft gar nicht erst vor Gericht, und auch wenn sie es bis dahin schaffen, sind die Chancen auf angemessene strafrechtliche Verfolgung (noch) nicht hoch. So bleiben Betroffene oft allein.

HateAid ist als erste deutsche Beratungsstelle auf digitale Gewalt spezialisiert. Unsere Autorin hat mit Anna-Lena von Hodenberg von HateAid über die Situation der Betroffenen gesprochen, über die Notwendigkeit finanzieller Unterstützung und die politische Dimension von Hass im Netz.

 

Ein feuchtfröhlicher Abend im Dezember 2013. Drei befreundete Abiturienten, naive, abenteuerlustige Reisende, erkunden einen kleinen Ort in Laos auf der Suche nach nächtlichen Erlebnissen. Im Sunset Guesthouse werden sie fündig, dort hat sich eine heitere Meute versammelt. Sie verbringen die Nacht mit Billard und Trinkspielen. Am nächsten Tag kehrt Backpackerin J. zurück, um die Regeln des Trinkspiels zu erfragen. Ohne Bedenken gibt sie ihr Handy F., einem jungen Australier, mit dem sie sich in der Nacht zuvor nett unterhalten hatte, damit er ihr die Regeln notiert. Er lässt sich Zeit, sie plaudert währenddessen mit dem Barkeeper und achtet nicht weiter auf ihn. Später, zurück in der eigenen Unterkunft, checkt sie ihre Emails. Warum sind da noch unverschickte Emails auf dem Weg? Sie überprüft ihren Postausgang und erschrickt. Bilder von ihr, nackt, die einzig für die Augen ihres Freundes zuhause in Deutschland gedacht waren, wurden bereits an eine unbekannte Adresse verschickt, andere sind noch auf dem Weg. Sie überwindet sich und erzählt ihren beiden Freunden davon. Mit deren Rückendeckung fasst sie sich ein Herz und marschiert, wütend wie eingeschüchtert, zurück ins Sunset Guesthouse, um F. vor versammelter Mannschaft zur Rede zu stellen. Erniedrigend ist das, besonders, da er alles leugnet, ohne mit der Wimper zu zucken, und noch viel mehr, als ihn die restlichen anwesenden Jungs für seine Aktion johlend abfeiern. Da er es so vehement abstreitet, beginnt J. selbst daran zu zweifeln, ob er es war, dabei ist die Sache glasklar. Sie ist panisch. Was, wenn die Bilder im Internet landen? Wenn sie sich eines Tages auf einen Job bewirbt und potenzielle Arbeitgeber die Bilder von ihr entdecken, wenn sie in ihrem Bekanntenkreis die Runde machen? Verzweifelt ruft sie ihren Freund an, der darüber lachen muss, was passiert ist. Sie schämt sich und erzählt niemandem sonst davon. Hätte sie diese freizügigen Bilder gar nicht erst gemacht, wäre das alles nicht passiert.

 

Es ist die ultimative Ohnmacht. Und ein Musterbeispiel dafür, wie der digitale Raum und die analoge Realität nicht voneinander zu trennen sind, das eine direkte Auswirkungen auf das andere hat. Was hier im analogen Raum begonnen hat, mit einer realen Begegnung, wird zur Gefahr im digitalen Raum, ein Bild wird zum Gegenstand der Macht, wenn es in die falschen Hände gerät. Zum potenziellen Drohmittel. Der Bundesverband von Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe bezeichnet so etwas als „bildbasierte sexualisierte Gewalt“. Sie ist nur eine von vielen Formen digitaler Gewalt.

Die Mission

Mit diesem Vorfall hätte J. nicht allein bleiben müssen. Aber ein Bewusstsein über dieses Phänomen

und die Möglichkeiten, sich juristisch zur Wehr zu setzen, hatte sie damals nicht. Auch 2020, wo sich das soziale und politische Leben noch viel mehr digital abspielt, fehlt es in der breiten Masse der Gesellschaft. Die Beratungsstelle HateAid ist die einzige auf digitale Gewalt und Hatespeech spezialisierte Beratungsstelle in Deutschland und will das ändern. Gegründet wurde sie mit dem obersten Ziel, mehr Fälle zur Anzeige zu bringen.

 
Seit 2018 helfen Anna-Lena von Hodenberg und ihr Team Betroffenen von digitaler Gewalt sowohl persönlich, als auch juristisch. Ihr prominentester Fall: Grünen-Politikerin Renate Künast. Sie helfen aber nicht nur jenen, die wie Künast in der Öffentlichkeit stehen, sondern allen Menschen, die von digitalen Angriffen betroffen sind. Sie wollen Täter:innen zeigen, dass das Netz kein rechtsfreier Raum ist, „sozusagen der Wilde Westen und das Eldorado für Hater“, wie Anna-Lena von Hodenberg es formuliert, „wo man seine Perversitäten, seinen Sadismus, Rechtsextremismus, Rassismus und seine Homophobie einfach ausleben kann, unabhängig von dem, worauf wir uns als Gesellschaft geeinigt haben“. Und auch ungeachtet dessen, was im deutschen Grundgesetz fest verankert ist.

»Was machst du denn, wenn du diffamiert wirst im Netz? Ziehst du dich zurück? Schreibst du nochmal was, stellst du etwas klar, diskutierst du mit den Hater*innen oder nicht?"« - Anna-Lena von Hodenberg

Wie HateAid hilft

Betroffene können HateAid telefonisch, per Email oder vor Ort kontaktieren. Der erste Schritt ist die sogenannte emotional stabilisierende Erstberatung. „Erstmal gucken wir gemeinsam: was ist passiert? Wie geht es dir? Wo stehst du gerade emotional, welche Art psychischer Stabilisierung ist nötig?“, erklärt Anna-Lena von Hodenberg. Im zweiten Schritt folgt die Sicherheitsberatung: Sind alle Daten der betroffenen Person, die im Netz existieren, gesichert und geschützt? Wo sind noch irgendwelche Fotos, die man benutzen kann? Sind alle Accounts auf privat gestellt, alle Passwörter sicher? Muss bei Google, Facebook und co. Dampf gemacht werden, damit so schnell wie möglich alle Daten der Person gelöscht werden, die zu Angriffszwecken missbraucht werden könnten? Auch Beweissicherung zählt dazu: Damit sich Betroffene die gewaltvollen Inhalte nicht noch einmal ansehen müssen, gehen an ihrer statt Werkstudierende von HateAid in die Twitter- oder Facebookfeeds und machen rechtssichere Screenshots, mit denen die Inhalte vor Gericht bewiesen werden können. Der dritte Baustein besteht in der Kommunikationsberatung, die laut Anna-Lena von Hodenberg sehr individuell angepasst werden müsse. „Was machst du denn, wenn du diffamiert wirst im Netz? Ziehst du dich zurück? Schreibst du nochmal was, stellst du etwas klar, diskutierst du mit den Hater:innen oder nicht?“ Das sind Fragen, die man nicht pauschal beantworten kann. Betroffene können auch ihre eigene Onlinecommunity mobilisieren und aufrufen, sich auf ihrem Feed mit ihnen zu solidarisieren, Gegenwind zu erzeugen

»Durch dieses Solidaritätsprinzip helfen sich Betroffene nicht nur selber und erlangen Gerechtigkeit, sie unterstützen auch die nächste betroffene Person."« - Anna-Lena von Hodenberg

Solidarität - finanziell und juristisch

Vor dem Rechtsweg schrecken viele aus finanziellen Gründen zurück. Zwar kann man bei der Polizei Anzeige erstatten, doch noch gelten die meisten Fälle digitaler Gewalt als Privatsache, führen also bestenfalls zu Zivilklagen. Sprich: Auch das Prozesskostenrisiko trägt man selbst. Durchschnittlich kostet beispielsweise das Anzeigen einer grenzüberschreitenden Äußerung 2000 Euro, die Betroffene erstmal selbst auf den Tisch legen müssen, um einen Anwalt oder eine Anwältin zu finanzieren, die sie vor Gericht vertritt. Wenn sie den Prozess verlieren: nochmal 2000 Euro. „Es darf nicht am Geldbeutel scheitern, dass Leute zu ihrem Recht kommen und Täter zur Verantwortung gezogen werden“, findet Anna-Lena von Hodenberg. Deshalb übernimmt HateAid die Prozesskosten, auch, wenn der Prozess keinen Erfolg hat. So bleiben Betroffene in jedem Fall finanziell unbeschadet. Gewinnen sie den Prozess allerdings, oder schaffen sie es sogar, ein Schmerzensgeld zu bewirken, geht dieses Geld zurück in den HateAid-Topf, und es werden weitere Prozesse daraus finanziert. Durch dieses Solidaritätsprinzip helfen sich Betroffene nicht nur selber und erlangen Gerechtigkeit, sie unterstützen auch die nächste betroffene Person. „Wenn man sich das als ein Schneeballsystem denkt, dann machst du damit das Netz auf lange Sicht zu einem besseren Ort. Wir wollen, dass sich unsere Arbeit systemisch und gesellschaftlich auswirkt“, schildert von Hodenberg die Vision von HateAid. Finanziell geht diese Rechnung bisher nur mithilfe von Spendengeldern auf – aus privater Hand.
 

Das Solidaritätsprinzip ermutigt Betroffene, Prozesse in Angriff zu nehmen und durchzustehen. Die Zeit vor Gericht bedeutet einen anstrengenden Kraftakt, in dem sie sich immer wieder mit ihren Gewalterfahrungen beschäftigen müssen. Es hilft, zu wissen, dass sie das nicht nur für sich selbst tun, sondern auch für andere. Um etwas am großen Ganzen zu verändern.

Beleidigungen sind erst der Anfang

Die häufigste Form digitaler Gewalt ist die Beleidigung. Das hat einen einfachen Grund. Eine Beleidigung ist binnen weniger Sekunden getippt und für erhitzte Gemüter eine schnelle und einfache Möglichkeit, ihre Aggression an anderen auszulassen. Für alle anderen Formen brauche es mehr „negative Kreativität“, weiß von Hodenberg. Die Moderation von Kommentarspalten sei ein effektives Mittel, um Hatestorms vorzubeugen.

Die Potsdamer Psychologin Dorothee Scholz, die mit HateAid zusammenarbeitet, hat heraus-gefunden, dass die Wahrscheinlichkeit für eine hasserfüllte Entwicklung in Kommentar-spalten drastisch steigt, wenn die ersten drei Kommentare in den Kommentarspalten schon hasserfüllt waren. Sind hingegen die ersten drei Kommentare eher sachlich, wird eine aufgeladene Person weniger extreme Äußerungen dort abladen. Aus ein paar Schneeflocken werde sonst schnell eine Lawine, so von Hodenberg.

„Wenn die Beleidigungen stehen bleiben, dann wird’s heftiger, dann kommen die Bedrohungen, dann die Verleumdungen, dann die Vergewaltigungsandrohungen, und irgendwann die Morddrohung“, erzählt sie. Deswegen sei es so wichtig, dass man bei der Beleidigung schon reagiere. Nicht zufällig taucht in dieser Aufzählung die Vergewaltigungsandrohung auf, der fast ausschließlich FLINT ausgesetzt sind: Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre und Trans-Personen. Denn überproportional oft sind digitale Angriffe sexistisch motiviert und auch ausgestaltet. Insbesondere Politiker:innen, politische Aktivist:innen oder Journalist:innen sollen durch Hatestorms und Drohungen mundtot gemacht werden, bekundet auch die Trans-Abgeordnete der Grünen Tessa Ganserer aus eigener Erfahrung.

 

Die Angst geht ins Analoge

Das Veröffentlichen intimer Bilder oder personenbezogener Daten wie der Adresse, sind extremere Fortsetzungen digitaler Gewalt. Letzteres nennt sich fachsprachlich „Doxing“ und ist eine Abkürzung von „dropping document“, zu deutsch: „Dokumente ablegen“. Gezielt veröffentlichen Täter:innen zum Beispiel Wohnanschrift, Telefonnummer oder Arbeitsplatz, sodass Betroffene ihres grundlegendsten Sicherheitsgefühls beraubt werden. Einige von den Betroffenen, erzählt von Hodenberg, seien schon mehrfach umgezogen. Wenn Bilder von den Kindern gepostet werden und darunter steht: „Wir wissen, wo sie zur Schule gehen“, droht digitale Gewalt zu sehr realer, körperlicher Gewalt zu werden. „Was macht das mit Eltern, die sich im Netz geäußert haben?“ fragt von Hodenberg. „Die Angst geht ins Analoge. Sie fühlen sich in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr sicher.“

Die Rechtsdurchsetzung dürfe nicht allein den Betroffenen aufgebürdet werden. HateAid fordert, dass Beleidigungen „relative Antragsdelikte“ werden.

Die Verantwortung darf nicht nur bei Betroffenen liegen

Trotzdem würden die psychischen Auswirkungen solcher Erfahrungen oft unterschätzt, weil man eben kein blaue Auge vorweisen könne oder eine gebrochene Rippe. Aus ihrer Beratung weiß von Hodenberg aber, dass massive psychische Gewalt oft dazu führt, dass Betroffene nicht mehr arbeiten und nicht mehr schlafen können. Manche denken an Suizid wenn sie lange dieser Gewalt ausgesetzt sind. Auch Depressionen sind oft eine Folge. Weil diese und andere psychische Folgen aber schambehaftet sind, sprechen wenige Betroffene öffentlich darüber . Auch, weil sie damit unter Umständen den nächsten Shitstorm riskierten. Deshalb plädiert von Hodenberg dafür, dass Organisationen, Politik, Justiz und Zivilgesellschaft digitale Gewalt zu einem gesellschaftlichen Thema machen. Die Rechtsdurchsetzung dürfe nicht allein den Betroffenen aufgebürdet werden. HateAid fordert, dass Beleidigungen „relative Antragsdelikte“ werden. Diese können nicht nur auf Strafantrag, sondern auch von Amts wegen verfolgt werden, wenn eine Staatsanwaltschaft den Fall als von besonderem öffentlichem Interesse einstuft und ein Einschreiten deshalb für geboten hält. In diesem Falle müssten nicht Betroffene selbst Anzeige erstatten, auch andere Menschen könnten einer Staatsanwaltschaft Fälle melden, und sie müssten vorgerichtliche Anwaltskosten nicht selbst tragen.

Was gerichtlicher Zuspruch den Betroffenen bedeutet

Anna-Lena von Hodenberg betont, welche Bedeutung ein erfolgreicher Prozess für Betroffene hat. Natürlich helfe es, wenn das Umfeld sich solidarisch verhalte oder die Beratungsstelle ihnen bestätige: das, was du erfahren hast, ist falsch, und es ist kriminell. Aber wenn eine offizielle Staatsinstanz wie ein Gericht sagt: „Ja, Ihnen ist hier Unrecht widerfahren“, habe das nochmal ein ganz anderes Gewicht. Das sei eine enorme Erleichterung und begünstige die Aufarbeitung der entstandenen psychischen Wunden und Traumata. Viele Betroffene sind in der digitalen Öffentlichkeit bloßgestellt worden, unter aller Augen, sichtbar für Freunde, Familie, Kollegen. Oftgeht das mit massiver Scham einher, die nicht selten in starke Vereinzelung, Isolation und einem Verlust des Selbstwertgefühls mündet.

Anna-Lena von Hodenberg bestätigt, dass es sich bei den Hauptbetroffenen um Frauen und Angehörige von Minderheiten handele. Menschen, die auch im analogen Leben Diskriminierung und Ausgrenzung nur allzu gut kennen, sei es aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, ihres Glaubens oder ihrer (nicht-deutschen) Herkunft.

Wen es trifft

Wie so oft handelt es sich bei den Betroffenen von digitaler Gewalt in der Regel um jene, für die ihre Rolle in der Gesellschaft ohnehin kein Waldspaziergang ist. Anna-Lena von Hodenberg bestätigt, dass es sich bei den Hauptbetroffenen um Frauen und Angehörige von Minderheiten handele. Menschen, die auch im analogen Leben Diskriminierung und Ausgrenzung nur allzu gut kennen, sei es aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, ihres Glaubens oder ihrer (nicht-deutschen) Herkunft. Oder aber Frauen, die in ihren Partnerschaften Gewalt erfahren haben, die sich nun im digitalen Raum fortsetzt, die von Ex-Partnern gestalkt, kontrolliert oder bedroht werden. Eine besonders perfide Form, sich an einer Ex-Freundin zu rächen, nennt sich „Revenge Porn“: Pornografie oder Nacktbilder werden aus Rachegründen vom Ex-Partner veröffentlicht. Einige der betroffenen Frauen wurden auch mit fremden Anrufen terrorisiert, nachdem ihr Gesicht auf nackte Frauenkörper von Hardcore-Pornos montiert wurde, mit ihrer privaten Telefonnummer daneben.

"Löschen Sie doch Ihren Account"

Dass es nicht viel mehr Vorfälle digitaler Gewalt vor Gericht schaffen, hat nicht nur finanzielle oder psychologische Gründe. Oft wenden sich Betroffene zuerst an die Polizei. Da würden sie aber oft abgewiesen oder mit Kommentaren á la „Löschen Sie doch Ihren Account!“ oder „Ist doch nur im Internet“ abgespeist. Selbst Sprüche wie „Da haben Sie aber ganz schön provoziert“ müssten sich einige anhören. Victim Blaming nennt sich das: die Schuld für einen Übergriff wird hier beim Opfer selbst gesucht. Auch dies erfahren Frauen weitaus häufiger als Männer. Dabei mangelt es eigentlich nicht an entsprechenden Straftatbeständen. Dennoch haben Betroffene häufig auf Polizeidienststellen das Gefühl, in der Bringschuld zu sein oder sich rechtfertigen zu müssen. Damit Polizei und Justiz angemessen reagieren und ermitteln, brauche man viel mehr Ausbildung und technische Ausstattung, fordert HateAid. Verständnis bei Beamt:innen könne es erst geben, wenn sie für das Thema sensibilisiert sind.

Es geht um mehr als die Verletzung persönlicher Ehre

 Auch bei einem offenen Fachgespräch der Linksfraktion zu digitaler Gewalt kam man zu dem Schluss, dass das entscheidende Problem nicht im Mangel an Straftatbeständen bestünde, sondern in der Anwendung der geltenden Gesetze durch Polizei und Justiz. Im deutschen Strafrecht ist zum Beispiel eine Beleidigung ein Straftatbestand. Sie wurzelt im allgemeinen Persönlichkeitsrecht und fällt juristisch unter die Kategorie der „Ehrdelikte“. Laut Grundgesetz meint „Ehre“ sowohl den inneren Achtungsanspruch einer Person sowie ihren Ruf innerhalb der Gesellschaft. Um ein Ehrdelikt anzuzeigen, muss die betroffene Person sich an eine Staatsanwaltschaft wenden und das Prozesskostenrisiko selbst tragen.

Für eine freie öffentliche Debatte in einer freien Demokratie

 Eine Studie vom Institut für Zivilgesellschaft und Demokratie  hat herausgefunden, dass 54 Prozent normaler Internetnutzer:innen seltener ihre politische Meinung im Netz kundgeben, aus Angst, selber Opfer von digitalen Angriffen zu werden. Das bedeutet Zensur im Netz. „Wer bleibt dann im Netz übrig?“ fragt von Hodenberg. „Die, die hassen, und die, die am lautesten schreien, weil die anderen sich nicht mehr trauen, sich zu äußern.“ Heutzutage ist das Internet zu einem der wichtigsten Orte öffentlicher Debatte geworden, an dem alle barrierefrei miteinander in Dialog kommen können. Wenn bestimmte Stimmen zu bestimmten Themen ganz gezielt aus dem Netz heraus gedrängt werden, „dann haben wir keine freie öffentliche Debatte in einer freien Demokratie mehr“.

Erfolge und Schritte nach vorn

Die gute Nachricht ist: es geht voran. Seit Juni erhält HateAid finanzielle Unterstützung des Bundesjustizministeriums und des Familienministeriums. Diese Finanzierung ist erstmal für drei Jahre gesichert, sowohl für die Betroffenenberatung, als auch in Teilen für die Prozesskosten. Da HateAid den Betroffenen nur dann zu einem Gerichtsprozess rät, wenn Hoffnung auf Erfolg besteht, können auch viele Erfolge verbucht werden. Von einem notorischen Rechtsextremisten wurden zum Beispiel für ein Falschzitat 10,000 Euro Schmerzensgeld eingeklagt. Ein Strafbefehl führte zu einer Hausdurchsuchung bei der auch Kinderpornographie gefunden wurde. HateAid plädiert vor allem für die Einrichtung von mehr Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Anna-Lena von Hodenberg ist aber optimistisch, sie hat den Eindruck, dass sich bei den Justizminister:innen der Bundesländer etwas bewegt. Nun müssten noch die Innenminister:innen nachziehen und konkrete Schritte bei der Polizei durchsetzen. Am Ende, betont sie, liege die Verantwortung aber bei allen, die im Netz aktiv sind. Jede und jeder müsse einschreiten, wenn Menschen beleidigt und bedroht werden. Manchmal reiche ein einfacher Satz: „Was du hier gerade geschrieben hat, finde ich nicht in Ordnung.“

Clara Engelien

Clara ist ein Nordlicht und schreibt inzwischen in Berlin. Im Studium hat sie sich anthropologischen, historischen und sprachlichen Fragen gewidmet. Sie glaubt, Gesellschaft wächst dann, wenn Menschen sich aus ihrer Komfortzone heraus trauen und sich auf andere Perspektiven einlassen – auf die unbekannten, die ungehörten und auch auf die unsympathischen.