#WHYDIDN’TYOUREPORT

Oktober 7, 2020

Autor*in:

Larissa

Worum geht es?

Wer sexualisierte Gewalt erlebt hat, hat damit auch eine Situation erlebt, in der einer*einem die eigene Selbstbestimmung geraubt wurde. Nicht zuletzt deshalb ist es so wichtig, im späteren Umgang mit dem Erlebten möglichst selbstbestimmt handeln zu können.

Inhaltswarnung: In diesem Text werden sexualisierte, geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt thematisiert sowie Aussagen des Victim Blamings zitiert.

 

Mit zunehmender Häufigkeit treten mutige FLINT*-Personen auf, die online sowie offline über ihre Erlebnisse von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen. Damit tragen sie enorm dazu bei, ein längst überfälliges gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, wie weitreichend und verbreitet dieses Problem ist. Doch während Online-Kampagnen wie #MeToo uns sicher einige Schritte weitergebracht haben, gibt es noch viel zu tun. So lässt sich beispielsweise auf Social Media beobachten, wie sich neu angestrichener Sexismus hinter oberflächlicher Wokeness versteckt.

 

Ob Instagramposts zu Erlebnissen sexualisierter Übergriffe oder Twitter-Threads über häusliche Gewalt, ob ein Beitrag auf YouTube oder auch im Gespräch mit Bekannten: Häufig finden sich dazu Kommentare voller eigentlicher Anteilnahme, die die beschriebenen Taten verurteilen – richtig so. Erstmal. Dann folgt allerdings nicht selten ein Appell an die Betroffene, nämlich, die Tat unbedingt anzeigen zu müssen à la „das musst du zur Polizei bringen“, „damit darf er nicht davonkommen“ und „wenn du schweigst, tut er es der nächsten an“. Solche Kommentare stammen von Personen, die sich selbst wohl als aufgeklärt bezeichnen würden. Die meinen, das Problem geschlechtsspezifischer Gewalt verstanden zu haben, dabei sind ihre Äußerung selbst noch immer problematisch und zeigen, dass nur an der Oberfläche gekratzt wird.

 

»(...)wenn nun Menschen beispielsweise in sozialen Medien auf den Bericht einer Frau, die von einem Mann sexuell genötigt wurde, anstelle von „bei dem, was du anhattest, musst du dich nicht wundern“ mit „das musst du anzeigen, sonst passiert es der nächsten!“ antworten, haben feministische Bewegungen bei ihnen trotzdem versagt.«

Ja, sexualisierte Gewalt wird heutzutage stärker kollektiv verurteilt. Das ist nicht zu übersehen und ein Fortschritt. Aber wenn nun Menschen beispielsweise in sozialen Medien auf den Bericht einer Frau, die von einem Mann sexuell genötigt wurde, anstelle von „bei dem, was du anhattest, musst du dich nicht wundern“ mit „das musst du anzeigen, sonst passiert es der nächsten!“ antworten, haben feministische Bewegungen bei ihnen trotzdem versagt. Nur anzuerkennen, dass sexuelle Übergriffe etwas schreckliches sind, bringt herzlich wenig, wenn weiterhin Opfer statt Täter zur Verantwortung gezogen werden.

 

Letztendlich ist nach diesem Narrativ nämlich wieder das Opfer, in den allermeisten Fällen eine FLINT*-Person, diejenige, die sämtliche Schuld und Verantwortung zugeschoben bekommt. Nicht mehr für früheres, aber dafür für zukünftiges Verhalten des Täters. Was für ein Bild schaffen wir damit? Beziehungsweise: Welches misogyne Bild erhalten wir damit aufrecht? Das, in dem der Täter ja nur seinen Trieben folgen würde und keinerlei Kontrolle über, geschweige denn Verantwortung für seine Taten hätte. Dasselbe Bild, das auch durch ältere Formen des Victim Blamings genährt wird.

 

» (...) auch hier wird der Täter letztendlich aus der Verantwortung genommen, das Opfer unter Druck gesetzt, Machtdynamiken verkannt und, ja, auch der Diskurs verschoben.«

Victim Blaming bezeichnet ursprünglich das Phänomen, dass beim Umgang mit Sexualstraftaten und anderen Gewaltverbrechen gegen FLINT* oftmals die Schuld für das Verbrechen nicht bei den Täter*innen, sondern bei den Opfern gesucht wird. Und das in einer Weise, die sich bei keiner anderen Art von Verbrechen finden lässt. Das ist für die Opfer nicht nur retraumatisierend, sondern hält sie oftmals davon ab, sich Hilfe zu suchen oder Unterstützung und Gerechtigkeit zu bekommen. Victim Blaming dient somit dem Täterschutz, verschleiert und stützt Machtdynamiken und verschiebt den Diskurs.

Wenn man so will, lässt sich die oben beschriebene Dynamik also als eine neue oder erweiterte Form des Victim Blamings beschreiben, wenn man Opfern von sexualisierter oder häuslicher Gewalt die Verantwortung zuschiebt, durch eine Anzeige weitere Straftaten des Täters (oder der Täter*in) zu verhindern. Denn auch hier wird der Täter letztendlich aus der Verantwortung genommen, das Opfer unter Druck gesetzt, Machtdynamiken verkannt und, ja, auch der Diskurs verschoben.

 

Hört Betroffenen endlich zu

Seit Ewigkeiten setzen sich Feminist*innen, Aktivist*innen und Betroffene für Aufklärung und Prävention von sexualisierten Gewalttaten ein. Online-Bewegungen wie #MeToo, KeineMehr oder TimesUp sind dabei nur moderne Nachfolgerinnen jahrzehntelanger Kämpfe. Und aus alldem hat die Mehrheitsgesellschaft wirklich wenig gelernt. Sollen wir das nun als Erfolg ansehen, dass nur noch die Hälfte aller Kommentare zu Artikeln über sexualisierte Gewalt aus klassischem Victim Blaming bestehen? Wenn dafür die andere Hälfte ein Appell an das Opfer ist, die Tat anzuzeigen, liegt noch ein mühsamer Weg vor uns. Und irgendetwas ist auch gewaltig falsch aufgefasst worden, wenn das die Reaktion auf Proteste gegen geschlechtsspezifische Gewalt sein soll. Deren Ziel war es doch eben genau jene Strukturen sichtbar zu machen und zum Einsturz zu bringen, die sexualiserte Übergriffe noch immer ermöglichen. Und dabei sollte am Kern des Problems angesetzt werden – nämlich beim System! Was, bitteschön, soll denn eine Person, die über ihre Erfahrung mit sexualisierter Gewalt spricht, damit anfangen, wenn ihr irgendein Fremder im Internet rät, „das doch einfach anzuzeigen“? Als ob sie darauf noch nie selbst gekommen wäre. Wir können doch Taten nicht erst verhindern, nachdem sie schon passiert sind. Wir müssen doch dafür sorgen, dass niemand überhaupt zum Täter wird und somit auch niemand zum Opfer werden kann, anstatt abzuwarten, dass jemand Täter wird und wir ihn dann ins Gefängnis stecken können.

»Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: Wer Opfer sexualisierter Gewalt wurde, muss erst einmal gar nichts. Außer das zu tun, womit es einer*einem selbst besser geht. «

Um es nochmal ganz deutlich zu sagen: Wer Opfer sexualisierter Gewalt wurde, muss erst einmal gar nichts. Außer das zu tun, womit es einer*einem selbst besser geht. Für manche ist das der schnellste Weg zum Polizeirevier, für andere eben nicht. Und selbst wenn sich eine Person aus freien Stücken ohne Drängen durch andere dazu entscheidet, den juristischen Weg gehen zu wollen, läuft das nicht so ab, wie sich manch ein Instagram-Kommentator wohl vorstellt. Es ist gut möglich, direkt auf Polizeibeamt*innen zu treffen, die den Betroffenen nicht glauben oder ihrerseits Victim Blaming betreiben. Es kann ebenso sein, dass die Strafverfolgung nicht aufgenommen oder aufgrund fehlender „Beweise“ wieder eingestellt wird. All das kann retraumatisieren, genauso wie eine mögliche Gegenüberstellung mit dem Täter. Außerdem müssen sich mehrfach diskriminierte Personen nicht nur vor Sexismus, sondern auch noch vor weiterer Diskriminierung und Gewalt durch die Polizei fürchten, insbesondere rassifizierte Personen.

 

Wer sexualisierte Gewalt erlebt hat, hat damit auch eine Situation erlebt, in der einer*einem die eigene Selbstbestimmung geraubt wurde. Nicht zuletzt deshalb ist es so wichtig, im späteren Umgang mit dem Erlebten möglichst selbstbestimmt handeln zu können. Dazu gehört auch, keine ungefragten Tipps und Aufforderungen zu bekommen, sondern im selbstgewählten Umgang mit dem Erlebten bestmöglich unterstützt zu werden. Und dazu gehört, versichert zu bekommen, dass das Verhalten des Täters niemals die eigene Schuld war und niemals in der eigenen Verantwortung liegt – nicht damals und auch nicht in der Zukunft.

Anlaufstellen für Betroffene von sexualisierter, geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt:

  • Wildwasser: 030 6162 0907 oder http://www.wildwasser-berlin.de/
  • ask gerd_a: http://askgerda.blogsport.de 
  • Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116 016 oder https://www.hilfetelefon.de/
  • BIG-Hotline: 030 611 0300
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Larissa

Larissas Wortgewandtheit bereichert nicht nur unser Magazin, sondern auch unseren SGU Pressespiegel Newsletter, indem sie regelmäßig die Wichtigkeit des feministischen und vor allem antikapitalistischen Protest unterstreicht. Wenn Larissa nicht gerade die Podcasts von Nicole Schöndorfer in Dauerschleife hört, schreibt sie sich Wut und und Empowerment von der Seele.