Stimmrecht gegen Unrecht: Herr Schulz, beschreiben Sie die Stimmung, die Sie in den letzten Wochen in Bezug auf die innerparteilichen Diskussionen um den §219a wahrgenommen haben.
Swen Schulz: Die Grundposition der SPD war immer klar: Wir wollten 219a abschaffen. Der Streitpunkt war aber: Ist ein Kompromiss mit der CDU/CSU tragbar oder nicht? Können wir dem Ganzen zustimmen – mit Bauchschmerzen – oder lassen wir es sein? In dieser Debatte habe ich immer wieder von den Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehört: „Ich habe überhaupt keine Reaktion aus dem Wahlkreis, keine Zuschriften, kein Bürgergespräch, nichts. Das regt die Leute scheinbar nicht auf, ist ein künstliches Thema. Bei Rente, Hartz IV, dem Klimawandel – da habe ich ohne Ende Post.“ Ehrlich gesagt habe ich außer von Ihnen auch nur eine andere Mail zum 219a bekommen. Das ist wenig im Vergleich zu anderen „Aufreger“-Themen. Eher habe ich das Gefühl, dass ich zu frauenpolitischen Fragen selbst in Aktion trete. Als Beispiel das Thema „Frauenhäuser“: vor kurzem bin ich auf Verbände und Organisationen zugegangen und habe mich nach einer ausreichenden Versorgung und Unterstützung erkundigt und meine Hilfe angeboten.
Stimmrecht gegen Unrecht: Glauben Sie, der direkte Kontakt vor allem zu SPD-Politiker*innen hätte die Debatte um den 219a anders verlaufen lassen können?
Swen Schulz: Das bleibt natürlich Spekulation. Aber wenn jeder SPD-Abgeordnete 150 Briefe oder Mails bekommen hätte, wenn mehr Bürgerinnen und Bürger sich deutschlandweit auch an ihre Abgeordneten vor Ort gewandt hätten, zu Sprechstunden und Veranstaltungen gekommen wären, dann hätte das Wirkung entfaltet. Trotz alledem ist die Thematik ja nicht vorbei, es entstehen immer wieder neue Entscheidungssituationen bezüglich Frauenrechten.
Stimmrecht gegen Unrecht: Nichtsdestotrotz wurde medial eine riesen Debatte über die Thematik losgetreten: diverse Zeitungen haben darüber berichtet, in sozialen Medien ging die Debatte rauf und runter, einschlägige TV-Shows, wie beispielsweise Anne Will, haben Sendungen darüber ausgestrahlt. Wir aus unserer Perspektive hatten deshalb einen ganz anderen Eindruck als den Ihrigen. Gleichzeitig sind wir Teil einer Generation, die ihrem Unmut häufig in sozialen Medien Luft macht. Ältere Generationen sind es wahrscheinlich noch mehr gewohnt, direkt an ihre Politiker*innen heranzutreten. Glauben Sie, die unterschiedliche Wahrnehmung der Debatte hat etwas mit Alter und Kommunikation zu tun?
S: Gerade Aktivitäten auf sozialen Medien erreichen viele Politiker nicht wirklich. Ich beispielsweise kriege gar nicht mit was bei Instagram passiert, das findet nicht statt für mich. Das ist möglicherweise tatsächlich eine Generationenfrage.
»Vielleicht muss die Politik lernen, die Augen und Ohren zu öffnen und auch in sozialen Medien auf Menschen zuzutreten.«
- Stimmrecht gegen Unrecht
SGU: An der Stelle würden wir gerne einen Wunsch formulieren. Wir selbst haben auf Instagram eine Vielzahl an Dialogen geführt und Menschen tatsächlich erreicht. Wir haben 24 Stunden lang die Kommentarspalte auf Jens Spahns Instagram Account lahmgelegt- und das nur durch zwei gezielte Hashtags. Dass er das nicht mitbekommen hat, bezweifeln wir. Wenn Sie deshalb meinen, dass Sie davon nichts mitkriegen, muss die Politik vielleicht lernen, die Augen und Ohren zu öffnen und auch in sozialen Medien auf Menschen zuzutreten. Die sozialen Medien sind ein stückweit zum Sprachrohr unseres Kollektivs und vor allem unserer Generation geworden. Auf der anderen Seite ruhen wir uns natürlich nicht nur auf diesem Medium aus, sondern arbeiten mit der Presse zusammen und suchen Dialoge in der Realität- genau wie jetzt gerade. Wir strecken auch unsere Fühler aus, vielleicht können wir uns da in der Mitte treffen. Lassen Sie uns über die viel diskutierte Studie von Jens Spahn zu dem sogenannten „Post- Abortion-Syndrome“ reden. In Ihrer Verantwortung liegt unter anderem die Finanzierung bestimmter Projekte im Bundestag. Gilt das auch in Bezug auf diese Studie?
S: Ich bin Mitglied des Haushaltsausschusses. Der definiert, wieviel Geld für welche Bereiche ausgegeben werden. Dabei wird aber nicht jede einzelne Ausgabe kontrolliert oder freigegeben, sondern jedes Ministerium bekommt Geld für zusammengefasste Zwecke. Jens Spahn hat unabhängig von der ganzen Diskussion um den 219a für das Jahr 2019 einen Etat für „Analysen, Planung, Studien“ bekommen. Als Minister hat er die Möglichkeit und Verantwortung, aus diesem Etat Aktivitäten zu finanzieren. Deshalb gibt es keine gesonderte Freigabe der Mittel für diese Studie durch die Bundesregierung oder den Bundestag.
SGU: Kann diese Studie nachträglich nicht angezweifelt, beziehungsweise die ihr zugesprochenen Gelder zurückgezogen werden? In der Öffentlichkeit ist ja massiver Druck entstanden, vor allem auch durch Nike van Dinthers Petition, die mittlerweile fast 75.000 Unterschriften verzeichnet.
S: Nein, Jens Spahn ist als Gesundheitsminister alleinverantwortlich für diese Studie und die ihr bewilligten Gelder. Theoretisch wäre die Studie zu stoppen, wenn sich die Bundeskanzlerin dagegen aussprechen würde. Das ist aber irreal: gerade die CDU/CSU will diese Studie, sie ist dezidiert als Teil des Kompromisses zwischen der Union und SPD gefordert worden. Einen gesonderten Beschluss muss es dazu also nicht mehr geben.
SGU: Was hat diese Studie denn mit dem Kompromiss um den 219a zu tun?
»Spahns Studie soll ein klares Zeichen setzen: ‘Wir sind gegen Schwangerschaftsabbrüche’.« - Swen Schulz
S: Fragen Sie das die CDU/CSU. Für die Union war die Studie anscheinend Teil ihrer Entscheidung, überhaupt einen Kompromiss einzugehen. Sicherlich soll sie Kritiker von rechts und auf der konservativen Seite ruhig halten – und ein klares Zeichen setzen: ‘Wir sind gegen Schwangerschaftsabbrüche.‘
SGU: Wir befürchten, dass die Studie nicht wissenschaftlich neutral durchgeführt wird- und eben genau das letztendlich „bewiesen“ wird, was bewiesen werden soll. Das Ergebnis ist von vornherein fast schon klar.
S: Wir werden im Bundestag vermutlich politische Auseinandersetzungen über die Studie führen – wie sie beauftragt ist, wer sie durchführt, welches Format sie hat. Direkten Einfluss können wir trotz einer öffentlichen Debatte leider nicht üben.
SGU: Tatsächlich war die Debatte um den §219a ja eigentlich schon fast verstummt, bis dieser Mathematikstudent aus Kleve ankam und mitgemischt hat… Dadurch wird auch gleichzeitig deutlich, wie geschult die Lebensschützer*innen Lobby ist. Die haben einen Blick dafür, die Grauzonen im Gesetz zu finden.
S: Genau, gefühlt war das bis zu diesem Zeitpunkt kein Thema mehr. Das letzte Mal wurde ja in den Jahren 1975 und 1990 in der Bundesrepublik ein Kompromiss in Bezug auf den §218 ausgearbeitet: Schwangerschaftsabbrüche sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich.
SGU: Straffrei, aber unterm Strich noch illegal.
»Es gibt bei Union und AFD Leute, die muss man den sogenannten ‚Lebensschützern‘ zurechnen.« – Swen Schulz
S: Die Regelung ist zwar schwierig, aber sie hat getragen. Denn auf der anderen Seite muss man sich verdeutlichen, dass die Positionen innerhalb des Bundestags sehr weit auseinander liegen. Es gibt bei der Union und der AFD Leute, die muss man den völlig durchgeknallten, sogenannten „Lebensschützern“ zurechnen. Für diese Menschen ist alles, was andeutungsweise in Richtung Erleichterung des Informationszugangs geht, von Übel. Mit der AFD ist die Stimmung in den letzten Jahren sogar noch schwieriger geworden – mit Wirkung in die CDU/CSU hinein. In der Debatte um den 219a mussten wir also überlegen, unter welchen Umständen ein Kompromiss mit dieser Partei überhaupt tragbar war.
SGU: An dieser Stelle eine Beobachtung unsererseits. Wir sind uns im Klaren darüber, dass die Debatte um den 219a nicht einfach runterzubrechen ist, sondern ganz viele Verknüpfungen zu anderen Themenkomplexen aufzeigt. Natürlich soll unserer Meinung nach längerfristig der §218, sprich die restriktive Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen, bekämpft werden. Trotzdem stand im Zentrum der juristischen Diskussion das Informationsrecht für schwangere Personen. In den Diskussionen im Bundestag wurden beide Paragraphen ständig durcheinandergeworfen, der eigentlich Diskussionsgegenstand völlig vergessen. Woran liegt das?
S: Den Debatten im Bundestag nach zu urteilen kann ich sagen, dass im Grunde in der Diskussion um §219a eine Stellvertreter-Debatte um den Paragraphen 218 geführt worden ist. Von beiden Seiten: eine möchte den 219a behalten, weil sie gegen Schwangerschaftsabbrüche ist. Die andere Seite, sprich SPD und die Opposition, haben sich gegen den 219a ausgesprochen, weil wir Schwangerschaftsabbrüche sachlich behandeln wollen. Dabei geht es auch immer um die grundsätzliche Frage nach dem unterschiedlichen Frauenbild. Die Positionen im Bundestag gehen da schon seit Jahrzehnten unglaublich weit auseinander.
SGU: Was war denn mit dem oppositionellen Teil innerhalb der SPD? Wieso wurde keine Gewissensentscheidung ausgerufen?
»Bis zur letzten Minute stand auf dem Spiel, ob es innerhalb der GroKo wirklich eine Mehrheit für den Kompromiss geben würde.« – Swen Schulz
S: Bis zur letzten Minute haben mehrere Abgeordnete der SPD gesagt, dass sie den Kompromiss nicht mittragen können. Bis zur letzten Minute stand auch auf dem Spiel, ob es innerhalb der GroKo wirklich eine Mehrheit für den Kompromiss geben würde – natürlich auch aufgrund von Gegenstimmen bei der Union aus ganz anderer Motivation heraus. Dem Protokoll kann man das Resultat entnehmen: einige Abgeordnete der SPD haben mit „Nein“ oder einer Enthaltung gestimmt.
SGU: Ansatzweise verstehen wir, dass im Rahmen einer Koalition, seien die Disparitäten auch noch so groß, agiert werden und ein gemeinsamer Nenner gefunden werden muss. Wir haben etwas recherchiert und herausgefunden, dass ein Artikel des im Vorfeld festgelegten Koalitionsvertrags bereits von der Union gebrochen wurde. Wieso ist dies einerseits möglich, aber andererseits legt die SPD kein Veto ein, wenn es um ihre eigene Agenda und die Rechte von schwangeren Frauen geht? Vor Eintritt in die Koalition hatte sich die SPD vehement für eine Streichung des Paragraphen ausgesprochen.
S: Ein Veto bedeutet in der Koalition keine Entscheidung. Ulla Schmidt, SPD- Fraktionsmitglied und Frauenrechtlerin seit eh und je, hat bei einer unserer Diskussionen gefragt: „Werden die Rechte der Frauen durch den neuen 219a jetzt wirklich so massiv beschnitten, dass dieser Kompromiss gar nicht durchgehen sollte und wir die Koalition deshalb platzen lassen sollten?“ Die ganze Debatte regt natürlich auf, weil von konservativer Seite ein schlimmes Frauenbild dahintersteckt. Wenn ich die Debatte aber rein sachlich betrachte, einen Schritt zurück gehe, musste ich mir letzten Endes sagen: schalte mal zwei Gänge runter.
»Wenn wir weiterhin zwei Gänge runter schalten, dann haben wir in 30 Jahren immer noch eine unzureichende Informationslage für Frauen.« - Stimmrecht gegen Unrecht
SGU: Wenn wir weiterhin zwei Gänge runter schalten, dann haben wir in 30 Jahren immer noch eine unzureichende Informationslage für Frauen. Die Weltgesundheitsorganisation hat ganz andere Richtlinien diesbezüglich formuliert, die Deutschland mitunterzeichnet hat- nonstop wird das eigene Wort gebrochen. Dass eine Frauenrechtlerin der ersten Stunde dazu anhält, die Flinte ins Korn zu werfen, finden wir mehr als besorgniserregend. Das ist eine Perspektive, die nichts mit einer modernen Diskussion zu tun hat. Gerade wenn wird von Gesetzen sprechen, die für Menschen gemacht sein sollten.
S: Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass die CDU/CSU ebenso reklamiert, Politik für Menschen zu machen – eben jene, die Schwangerschaftsabbrüchen kritisch gegenüberstehen.
SGU: Die Argumentation der SPD ist diesbezüglich ja anders. Der Kern des Problems scheint uns deshalb in der Verbindung beider Parteien zu liegen. Ist die Debatte um den 219a also auch eine Debatte um den Erhalt der GroKo?
S: Bei allen Debatten innerhalb der GroKo – sei es der Klima- oder Mietschutz oder die Rente – steht im Konfliktfall automatisch auch deren Erhalt auf dem Spiel. Ich persönlich habe mich im Vorfeld gegen die große Koalition ausgesprochen. Deshalb hätte ich gerne vermieden, überhaupt in eine Situation zu kommen, in der man forciert wird, derartige Kompromisse zu machen. Es ist schwierig mit einer Partei wie der CDU/CSU Kompromisse zu finden, wenn wir als SPD klar und aufrichtig bleiben wollen. Nun besteht die Koalition aber, und ich muss damit irgendwie umgehen.
SGU: Wie sah ihre persönliche Entscheidungsfindung in Bezug auf den Kompromiss aus?
S: Nach vielen Diskussionen mit Kollegen, Freunden und Familie stellte sich mir am Ende die Frage: Wenn es auf meine Stimme in dieser Entscheidungssituation ankommt, will ich die kleinen Verbesserungen bei 219a und die große Koalition scheitern lassen? Will ich es darauf ankommen lassen, dass es vielleicht Neuwahlen gibt? Was wird dann besser? Meine Entscheidung innerhalb dieses schwierigen Spannungsfelds war: ich kann das mitgehen. Ich habe den Kompromiss am Ende nicht als so schrecklich empfunden, dass ich dagegen stimmen müsste. Es ist Ihr gutes Recht, das zu kritisieren. Die Einigung, die wir jetzt haben, dreht sich eben nicht um die Grundsatzfragen, sondern wirklich um das Technische: Wie wird informiert? Diesbezüglich gibt es Verbesserungen, deswegen konnte ich am Ende, wenn auch mit Bauchschmerzen, dem Kompromiss zustimmen.
SGU: Die Verbesserungen, von denen sie sprechen, sind beschränkt. Ärzte dürfen öffentlich mitteilen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Sie dürfen nicht mitteilen, welche Methoden sie anwenden. Andere Websiten dürfen das. Wir reden nicht von staatlich anerkannten Stellen, sondern von Seiten wie „Babycaust“, die sich klar in der fundamentalistischen Lebensschützer-Szene verorten lassen.
S: Den Begriff „Lebensschützer“ finde ich übrigens grauenvoll, er klingt so trügerisch positiv. Die Aktivitäten dieser Menschen jedenfalls wollten wir von der SPD eingrenzen. Bestimmte Bewegungen, wie beispielsweise die Gehsteigberatungen, könnte man unter Strafe stellen. Mit der CDU/CSU war da nichts zu machen.
„Ist der Erhalt einer Sozialdemokratie nicht wert, die große Koalition scheitern zu lassen?“ – Stimmrecht gegen Unrecht
SGU: In unseren Augen ist der 219a ist immer noch eine immense Beschneidung des Selbstbestimmungsrechtes von Frauen und des Arbeitsrechtes von Gynäkolog*innen. Versuchen wir nun, die Perspektive zu ändern. Ganz neutral betrachtet ist der Paragraph eine ganz klare Einschränkung des grundlegenden Informationsrechtes. Wir wollen glauben, dass wir in einer stabilen, sicheren Demokratie aufwachsen, der Zugang zu Informationen eine Selbstverständlichkeit ist. In diesem Punkt ist das definitiv nicht der Fall. Sie haben sich gefragt: „Ist es das wert, dass die Koalition daran scheitert?“ Wir stellen die Gegenfrage: Ist es der Erhalt einer Sozialdemokratie nicht genau DAS wert?
S: So kann man das sehen. Man kann aber auch sagen: Ein Schwangerschaftsabbruch ist nicht genauso ein medizinischer Eingriff wie beispielsweise eine Knie-OP. Deswegen möchte ich nicht, dass Ärzte darüber – ich versetze mich jetzt mal in die Lage der Kritiker – „werbend“ informieren.
SGU: Das ist laut ärztlicher Berufsordnung sowieso verboten. Es gibt einen Paragraphen, der die Art und Weise zu werben, genau regelt. Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen einer medizinischen Handlung wie einer Knie-OP und einem Schwangerschaftsabbruch?
S: Der Schwangerschaftsabbruch ist kein normaler medizinischer Eingriff, er kann nur unter besonderen Voraussetzungen stattfinden. Deshalb ist auch das Thema der Information ein anderes; das Informationsrecht wird durch den Gesetzgeber eingeschränkt. Aber in der neuen Fassung wie gesagt erweitert – und das Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin ist davon selbstverständlich unberührt.
SGU: Kann an dem finalen Wortlaut zu 219a zum jetzigen Zeitpunkt noch etwas geändert werden?
S: Ob der Kompromiss dann am Ende Bestand hat, wird das Bundesverfassungsgericht feststellen. Die werden sich die Sachlage auf jeden Fall nochmal ganz genau angucken. Wenn die Richter im Zweifelsfall der Auffassung sind, dass die Rechtsordnung bzw. überhaupt die im Gesetz verankerte Sonderstellung der Schwangerschaftsabbrüche nicht tragbar ist, dann wird dementsprechend auch geurteilt werden. In der Folge kann das Bundesverfassungsgericht dann auch sagen, wie der Paragraph neu zu regeln wäre. Frau Hänel hat ja schon angekündigt, dass sie auch bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen wird – das finde ich super.
SGU: Was veranlasst die SPD bis dahin, um eine bessere Ausgangssituation für schwangere Personen zu schaffen? Oder gibt sich die Partei jetzt mit dem Kompromiss zufrieden?
S: Fragen Sie doch mal Franziska Giffey was sie diesbezüglich noch plant. Teil des Kompromisses ist ja auch die Neuregelung der Altersgrenze bei der Kostenübernahme der Verhütungspille. Das kann ja vielleicht auch schon ein bisschen helfen.
SGU: Nachdem Sie innerhalb des Bundestages ja auch mit finanziellen Mitteln in Berührung kommen, hier ein kleiner Hinweis. Für den Zusatzparagraphen bezüglich der Kostenübernahme bei der Verhütungspille werden insgesamt 60 Millionen Euro jährlich ausgegeben werden. Für die Finanzierung der staatlich neutralen Stellen eine Million Euro. Zusammen mit der hohen Finanzierung für Spahns Studie ein weiteres Zeichen dafür, dass staatliche Gelder regelrecht verschleudert werden. An anderen Stellen würde das Geld definitiv bessere Verwendung finden. Beispielsweise gibt es die durch ProFamilia formulierte Regelung, dass innerhalb einer Tagesreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine praktizierende Gynäkolog*in erreicht werden muss- aber kein Gremium, dass diese Auflage kontrolliert. Außerdem gibt es mittlerweile über 150 christliche Beratungsstellen, das sind fast mehr als staatliche. In der Lobby der Lebenschützer*innen hingegen passiert viel: sie etablieren sich mittlerweile zu einem global organisierten Verein, der Gelder hin und herschiebt. Besonders in diese Richtung brauchen wir ein Aufhorchen und Aufwachen.
S: Ich vermute auch, dass es zwischen Stadt und Land erhebliche Unterschiede in der Versorgung gibt.
SGU: Und zwischen christlich geprägten Gebieten und eher konfessionslosen oder liberaleren. In Gemeinden wie Frankfurt stehen beispielsweise jeden Tag Menschen vor den Beratungsstellen oder Praxen und schrecken mit sogenannten „Gehsteigberatungen“ ab. Haben Sie eine Idee, inwiefern alle, die von diesem Kompromiss enttäuscht sind, ihre Stimme trotzdem noch auf politischer Ebene hörbar machen können?
»Auf bundespolitischer Ebene gesehen rate ich Ihnen: Ärgern Sie den Spahn, fordern Sie eine Reaktion von Frau Giffey ein.«- Swen Schulz
S: Der 219a wird sicherlich spätestens nach der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2021 wieder auf der Tagesordnung stehen, je nachdem welche Mehrheiten es gibt. Möglicherweise könnte die Thematik aber auch im Zusammenhang mit der Europa-Wahl auf der Agenda stehen. Außerdem gibt es regelmäßig Landtagswahlen. Diesbezüglich kann man fragen: Gibt es beispielsweise in Brandenburg Streitpunkte, auf die die Landesregierung konkret Einfluss nehmen kann? Etwa Beratungsstellen, die Zugänglichkeit von Informationen…es könnte ein Forderungskatalog erstellt und diesen den Parteien, die sich in Brandenburg zur Wahl stellen, vorgelegt werden. Unabhängig von diesen Wahlen könnten Sie sich auch hier überlegen: Was erwarte ich jetzt vom Berliner Senat als Reaktion auf diese Regelung? Was kann das Land Berlin, unabhängig von dem Kompromiss um 219a, beschließen? Und auf bundespolitischer Ebene gesehen: Ärgern Sie den Spahn, fordern Sie eine Reaktion von Frau Giffey ein. Vor allem aber bin ich der Meinung: es gibt laufend Anstrengungen mehr für Frauenrechte zu tun. Vielleicht ist die Diskussion aber an der ein oder anderen Stelle angestaubt. Wenn Sie in die feministische Debatte neue Impulse bringen würden, fände ich das super.
SGU: Sie können sich sicher sein, dass wir diese Tipps umsetzen werden. Herr Schulz, wir danken Ihnen für dieses aufschlussreiche Gespräch und Ihre Ehrlichkeit.